Newsnational Montag, 24.11.2025 |  Drucken

Doktrin versus Völkerrecht und Menschrechte

Warum deutsche Beamte sich gegen die „Staatsräson“ stellen dürfen

Als im Sommer 2025 erstmals darüber berichtete, dass sich im Auswärtigen Amt eine interne Gruppe von über 100 deutsche Diplomaten formiert habe, die sich offen gegen die Gaza-Politik der Bundesregierung stellt, sorgte dies bundesweit für Aufsehen. In einem ausführlichen Gastbeitrag vom 20. November 2025 („Dürfen sich deutsche Beamte gegen die ›Staatsräson‹ stellen? Selbstverständlich“, SPIEGEL, 20.11.2025) beschreibt nun der ehemalige Diplomat Philip Holzapfel die Hintergründe dieses Protests – und stellte klar, dass es dabei keineswegs um Ungehorsam ging. Vielmehr handele es sich um Ausdruck von Verfassungstreue.

Der Konflikt zwischen Staatsräson und Grundgesetz Deutschlands Selbstverpflichtung, Israels Sicherheit zur „Staatsräson“ zu erklären, war lange politischer Konsens. Doch laut Holzapfel hält ein wachsender Teil der deutschen Diplomatie diese Linie für nicht mehr vereinbar mit dem Grundgesetz. Genau darauf haben die Beamten ihren Eid geleistet – nicht auf politische Formeln. Der SPIEGEL dokumentierte bereits im Juli, wie heftig intern diskutiert wurde. Beamte stellten die Frage, ob die Regierungslinie noch mit völkerrechtlichen Verpflichtungen im Einklang stehe. Damit stellt sich ein heikler Punkt: Was tun Beamte, wenn sie glauben, dass der Staat selbst gegen die Grundordnung verstößt, die sie schützen sollen? Das deutsche Beamtenrecht sieht den Weg über die Remonstration vor – also den Widerspruch gegen rechtswidrige Anweisungen. Während dies im Verwaltungsalltag erfolgreich sein kann, ist es in der Außenpolitik schwieriger, weil politische Entscheidungen oft zu abstrakt sind, um juristisch angreifbar zu erscheinen.

Völkerrecht als verfassungsrechtliche Leitplanke Holzapfel erinnert daran, dass die Nachkriegsordnung bewusst eine klare Normenhierarchie geschaffen hat: Artikel 25 des Grundgesetzes erklärt das Völkerrecht zu unmittelbar geltendem, höherrangigem Recht. Diese Konstruktion soll verhindern, dass Deutschland je wieder Völkerrechtsbrüche legitimiert. Die aktuellen Entwicklungen im Gaza-Konflikt verschärfen die Lage. Seit Januar 2024 liegen bindende Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs gegen Israel vor. Es befinden sich seit den am 26. Januar 2024 vom IGH erlassenen rechtsverbindlichen Anord­nungen im Genozid-Verfahren Südafrika vs. Israel in einem besonderen Rechtsbereich, in dem es keine Verjährungsfristen gibt. Überdies ist die Genozid-Konvention von 1948 das einzige internatio­nale Abkommen, das bereits im Titel ein doppeltes Ziel nennt: sowohl die Verhütung als auch die Bestrafung von Völkermorden. Sie soll also ebenso präventiv wie repressiv wirken. Das nach ihrem Autor, dem jüdisch-polnischen Juristen und Holocaustflüchtling Raphael Lemkin benannte Lemkin-Institut qualifizierte bereits im Dezember 2023 in einer Erklärung  das israelische Vorgehen in Gaza als Genozid, was inzwischen in der Fachgemeinschaft nahezu Konsens ist. Sollte der IGH zu demselben Schluss kommen, könnten nach den von Israel nachweislich missachteten IGH-Anordnungen genehmigte Waffenlieferungen auch in Deutschland strafrechtlich relevant werden. Genau das sei vielen Diplomaten bewusst, schreibt Holzapfel – und genau darin liege das Dilemma: Ihre verfassungsrechtliche Pflicht kollidiere mit einer politischen Doktrin.

Historische Verantwortung trifft Gegenwartsrecht „Nie wieder“ – dieses in Deutschland tief verankerte historische Leitmotiv – prägt die gesamte Außenpolitik. Doch wie dieses Prinzip konkret umzusetzen ist, darüber tobt ein Kulturkampf. Der Gastbeitrag verweist auf ein historisches Beispiel, das in Diplomatenkreisen bis heute präsent ist: Der Botschafter Friedrich-Wilhelm von Prittwitz und Gaffron war 1933 der einzige deutsche Spitzendiplomat, der offen gegen Hitler Stellung bezog und zurücktrat. Viele heutige Diplomaten, so Holzapfel, beschäftigen sich zwangsläufig mit der Frage, welche Verantwortung ihnen aus dieser Geschichte erwächst.

Warum der Protest kein Aufstand ist Im Ausland traten im Jahr 2024 und 2025 zahlreiche Regierungsbeamte wegen der Gaza-Politik zurück – etwa in Großbritannien, den USA und den Niederlanden. In Deutschland jedoch gab es weder eine Welle von Rücktritten noch eine offene Rebellion: lediglich eine fragwürdige Entlassung, die nun juristisch überprüft wird. Holzapfel argumentiert, dass der deutsche Rechtsrahmen hier entscheidend ist: Beamte sollen nicht aus Loyalität schweigen, wenn sie Rechtsbrüche vermuten. Die Verfassung verpflichtet sie ausdrücklich, auf Völkerrechtskonformität zu achten. Und das Gesetz über den Auswärtigen Dienst macht klare Vorgaben: Förderung einer friedlichen Weltordnung, Menschenrechte, internationale Rechtsbindung. Eine Politik, die diese Grundlagen ignoriert, widerspricht ihrem eigenen Auftrag.

Die kommende nahostpolitische Zeitenwende Unter Beteiligung von mehr als 100 internationalen Fachleuten entstand 2025 das Papier „Jenseits der Staatsräson“, das eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Nahostpolitik fordert – weg von unreflektierter historischer Symbolik, hin zu einer Politik, die Völkerrecht und Verantwortung verbindet. Auch darüber berichtete der SPIEGEL im Laufe des Jahres. Eine politische Neuausrichtung ist nach Einschätzung vieler Experten unausweichlich. Doch nur Parlament und Regierung können sie umsetzen. Beamte aber, so Holzapfel im SPIEGEL, dürfen und müssen sich als Bürger in diese Debatte einbringen. Genau darin liege ihre verfassungsrechtliche Pflicht. Holzapfels Fazit ist eindeutig: Der Protest der Beamten ist kein Aufstand gegen den Staat – sondern ein Aufstand für den Rechtsstaat.




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